Projektbüro spricht mit Sandy Kaltenborn, künstlerische Leitung des Ferienprogramms für Kinder und Jugendliche während der Testspiele #2, über das Ankommen in Rothenburgsort, Unterschiede und Ähnlichkeiten zum Kottbusser Tor, wo Sandy lebt und arbeitet, und die Kids und ihr Wandbild.
Projektbüro: Sandy, du hast ja das Wandbild mit deinem Kollegen Stefan Endewardt und Jugendlichen hier aus dem Stadtteil realisiert. Magst du ein wenig von dem Prozess berichten und wie du, als jemand der aus Berlin kommt, auf den Stadtteil blickt?
Sandy Kaltenborn: Gerne. Erst einmal war Rothenburgsort für uns beide etwas befremdlich. Irgendwie ein Ort ohne Zentrum und mit relativ wenig Treiben auf den Straßen. Das Kottbusser Tor, an dem wir beide in Berlin leben, ist ein räumlich-architektonisch äußerst verdichteter, superdiverser urbaner Raum. Hochhäuser aus den 70iger-Jahren, ein großer Kreisverkehr, zwei U-Bahnen, unzählige Geschäfte und Läden und vor allem fast zu jeder Tageszeit viele sehr unterschiedliche Menschen, die ganz unterschiedlichen Bedürfnissen nachgehen. Hier ist es laut und chaotisch. Die Sinne sind einem permanenten Rauschen ausgesetzt. Angekommen sind wir dann in Rothenburgsort mit der S-Bahn und haben netterweise eine kleine Führung bekommen. Das erste, was wir gesehen haben, war die Billstraße. Ich war sofort begeistert von dem Treiben und Handel, der sich dort abbildet. Ein Teil meiner Familie stammt aus Afghanistan. Nun durch eine Straße in Hamburg zu laufen und Körper zu sehen, die meine Cousins oder Onkels sein könnten, gibt einem sofort das Gefühl irgendwie verbunden und zuhause zu sein.
Die Geschichten der Migration, die sich in unseren Städten abbilden, begreife ich als ein Geschenk. Es ist ein Glück durch und mit unterschiedlichsten Perspektiven auf das Leben in unseren Städten zu blicken.
Was mir dann jedoch auffiel, war, dass die Billstraße dann scheinbar doch recht wenig mit dem Rest des Stadtteils zu tun hat. Als wir über den Billhorner Deich weiter in Richtung Röhrendamm gingen, waren Stefan und ich irritiert, dass so wenig los war auf den Straßen. Diese Siedlungen aus 50iger-Jahre-Häusern sahen irgendwie traurig aus. Es gab wenig Geschäfte und Cafés zu sehen. Wir hatten den Eindruck das Rothenburgsort wenig Orte hat, die zum Verweilen einladen. Klar, gibt es dieses Einkaufszentrum (Marktplatz?) und ein paar andere Orte, wo mehr Leute waren. Aber insgesamt ist es doch ein starker Kontrast zu unserem Zuhause in Berlin. Und wenn man dann versteht, dass der Stadtteil sehr citynahe liegt, beschleicht einem sofort der Gedanke: „Was für ein Potential!“ Beim Anblick des schnell wachsenden Rohbaus des Signa-Towers, wird einem klar, dass hier in den kommenden Jahren ein immenser Druck auf dem Stadtteil liegen wird. Wer gestaltet hier eigentlich die Zukunft, wessen Interessen werden gehört? Ich meine, alleine Signa hier als Akteur zu sehen, reicht ja schon, um zu verstehen, dass hier was falsch läuft. Signa baut nicht für die Menschen, sondern für den Profit. Das kennen wir zu Genüge aus Berlin.
Projektbüro: Wie ging es dann weiter? Ihr seid dann einige Wochen später zurückgekommen, um den Workshop mit den Jugendlichen zu veranstalten.
Sandy Kaltenborn: Stefan und ich haben lange überlegt, wie wir mit den Auftrag umgehen. Denn eigentlich waren es aus unserer Sicht zwei Aufträge: einmal ein Ferienprogramm mit den Jugendlichen zu gestalten und zum zweiten ein ansehnliches tolles Wandbild abzuliefern. Die Frage der künstlerischen Eitelkeit muss man dabei auch mitverhandeln. Also wessen Handschrift trägt das ganze am Ende. Aber es war uns dann schnell klar, dass wir die Themen der Kids nach vorne stellen und den Workshop so partizipativ wie eben möglich anlegen wollen. Als wir dann zurück in Rothenburgsort, an der Kreuzung Billhorner Röhrendamm ankamen, waren wir erstaunt darüber wie gut das Angebot, das Setting, welches projektbüro und raumlabor dort aufgebaut hatte, funktionierte. Es gab ja nur ein paar Stühle und Bänke, eine paar Schilder und diesen kleinen umgebauten Wohnwagen, wo es Kaffee und Fragebögen gab, kaum mehr. Aber diese kleine Intervention auf dem Rasen vor den SAGA-Häusern und der Bushaltestelle hatte eine kleine Magie in sich. Diese kleinen Bauten hatten das Vermögen den Alltag an der Kreuzung im produktiven Sinne zu irritieren. Ich war erstaunt, wie viele einfach so vorbeikamen und mit einem Kaffee dort verweilten und von sich aus ihren Blick und ihre Geschichten zum Stadtteil zu erzählen. Ich bin in den folgenden Tagen oft zwischen dem Mikropol und dem Wohnwagen hin und her gelaufen und habe den Geschichten lauschen können.
Wir kennen das: Es sind die Geschichten der Vielen, die ein tiefes Verständnis des Ortes und seiner Geschichten in so einem unaufgeregten Format des Verweilens nach oben bringen. Das sind Geschichten und Perspektiven, die in der nominellen Stadtentwicklung meist unterbelichtet sind oder gar nicht erst vorkommen.
Projektbüro: Wie meinst du das?
Sandy Kaltenborn: Nun ja, Stefan und ich sind in Berlin seit langem über unsere gestalterische Praxis hinaus durch unsere politische gemeinwesenorientierte Praxis mit vielen Stadtentwicklungsprozessen bei uns im Kiez verbunden. Was wir immer wieder feststellen, ist, dass die Stadtverwaltung oder auch die Hausverwaltungen oft gar nicht wirklich wissen, wie der Kiez so tickt und was die Bedarfe wirklich sind. Es fehlen Formate der Vermittlung, der Übersetzung und des gegenseitigen Lernens. Als wir dann verstanden haben, dass das Projekt, über das wir eingeladen waren, keinen direkten Einfluss auf die schon recht weit fortgeschrittenen Planungen der Stadtverwaltung und der SAGA im Stadtteil hat, waren wir etwas enttäuscht. Und wenn man dann hört, dass nicht wenige Gewerbetreibende, die Imbissbesitzer usw. nicht wissen, wie es bei Ihnen am Standort weitergeht, ist das natürlich problematisch. So etwas schafft dann auch Frustration und ist einer demokratischen nachhaltigen Stadtentwicklung nicht zuträglich.
Ich hatte den Eindruck, dass es in Rothenburgsort sehr wohl viele Menschen gibt, die engagiert sind, die mitreden – und vor allem mitgestalten wollen, und dass es viele gibt, die gar nicht erst wissen, dass Ihre Stimme und ihr Blick auf das Quartier von Bedeutung sein könnte.
Die Armen haben halt keine starke Lobby wie Signa oder so. Sie haben aber ein tiefes Wissen, welches im Sinne von Teilhabe auch Gewicht haben sollte. Man sollte den Leuten nicht immer was vorsetzen und denken, dass es schon das Richtige ist. Mich hat das Ganze auch an unsere Auseinandersetzungen mit den kommunalen Wohnungsbaugesellschaften hier in Berlin erinnert. Denen klarzumachen, dass wir keine „Kund:innen“ sind, sondern dass die LWUs [Anm. d. Herausgeberin: landeseigene Wohnungsunternehmen] unsere Unternehmen sind, über die wir das Wohnen und Leben demokratisch mitgestalten wollen, ist ein sehr, sehr langer mühsamer Prozess. Die Logiken und Prozesse solch großer Unternehmen, oder auch der Verwaltung differieren eben doch sehr von der Alltagswirklichkeit der Bewohner:innen. Es würde vielleicht schon helfen, wenn die Sachbearbeiter:innen der Unternehmen oder Verwaltung drei Monate in den von Ihnen verwalteten Beständen bzw. Stadtteilen wohnen würden. Wohnen ist keine Exceltabelle und Demokratie ist etwas, was von unten im Alltäglichen wachsen muss.
Projektbüro: Spannend. Aber wie war dann der Workshop mit den Jugendlichen?
Sandy Kaltenborn: Anstrengend (lacht)! Und toll gleichzeitig. Ich meine, es war ja ein Ferienprogramm und so ein Workshop mit einem klaren Ziel ist auch Arbeit. Die Kids wollten vor allem Spaß haben und es hat schon einiges an Kraft gekostet, den Prozess so zu gestalten, dass am Ende ein Entwurf steht, den wir dann danach fertigstellen können. Toll war es zu sehen, dass das Thema so schnell gefunden war.
Obwohl sich das uns nicht sofort erschlossen hat, ist es wohl so, dass die Kids mehr Räume und Angebote brauchen, als es in Rothenburgsort aktuell gibt.
Wir haben dann über die Woche spielerisch mit unterschiedlichen Methoden Bilder, Kollagen und Forderungen zusammen mit den Kids entwickelt. Das hat großen Spaß gemacht. Die Kids haben mich an unsere Kids hier am Kottbusser Tor erinnert. Viele mit viel Energie und einer Migrationsgeschichte im Gepäck, die Ihnen andererseits unter den aktuellen Bedingungen nicht unbedingt die besten Startmöglichkeiten in eine gute Zukunft gibt. Armut, Rassismus in der Schule und beengtes Wohnen sind auch hier bei uns ein großes Thema. Insofern ist unser Beitrag mit dem Wandbild hoffentlich eine Erfahrung von Wirkmächtigkeit, die einige von den Kids auf ihren Wegen mitnehmen werden. Dazu einen kleinen Beitrag mit meiner Arbeit zu liefern, beglückt mich. Insofern war der Workshop für mich ein Erfolg.
Projektbüro: ... und das Wandbild?
Sandy Kaltenborn: ... ist einerseits sehr klar von der Aussage her und andererseits stolpert man auch ein wenig beim Betrachten über die Forderung nach mehr Platz. Denn auf den ersten Blick scheint es an Platz in Rothenburgsort ja nicht zu mangeln. Die Frage ist aber, was fehlt und welche Zugänglichkeiten es gibt, insbesondere wenn wir uns die Situation in Zeiten der Corona-Pandemie nochmals vor Augen führen. Die Frage ist also auf die Zukunft ausgerichtet. Den Schatten vom Signa-Tower finde ich ja schon etwas bedrohlich am Horizont. Eine Stadt der Investoren wird keine demokratische sein und die Ausschlüsse, die es heute schon gibt, leider nur verstärken. Das kennen wir schon. Wenn man nun mit freiem WIFI, Tretbooten in Entenwerder, Karaoke singen auf Verkehrsinseln oder dem, was rund um das Mikropol so passiert anfängt, ist schon viel gewonnen.
Ich verstehe das „Platz da?!!“ mit seinen Ausrufe-, aber eben auch Fragezeichen als eine offene Frage, was die Entwicklung des Stadtteils insgesamt angeht.
Sandy Kaltenborn lebt in Berlin und betreibt seit 1999 das Kommunikationsdesign-Büro image-shift.net, welches seit Bestehen an den Schnittstellen von Design, künstlerischer Produktion und gesellschaftspolitischen Engagement arbeitet. Kaltenborn ist Mitbegründer der Mietergemeinschaft Kotti & Co und aktuell Gastprofessor an der Hochschule Burg Giebichtenstein in Halle.